Um 1850 war die Tracht fast vollständig aus den Bündner Tälern verschwunden. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Zuge von grossen Festen im Kanton, wurden die alten Trachten wieder hervorgeholt und gewannen an Bedeutung. Dabei wurden neue Mustertrachten geschaffen, die oft auf Elemente der historischen Trachten basierten. Viele der heutigen Trachten sind daher Konstrukte, welche nicht historisch gewachsen sind. Damals wurde beispielsweise festgelegt, dass der Bündner Kreuzstich auf die Arbeits- und Sonntagstracht gestickt wird. Auf anderen Kleidungsstücken erscheint der Kreuzstich nie, ausser als Initialen auf Hemden und Unterwäsche.
Die Arbeitstracht ist die schlichteste Form der Tracht. Sie besteht aus einer kurzärmeligen Leinenbluse, auf deren Kragen der Kreuzstich gestickt wird. Ergänzt wird sie durch ein gestricktes Schultertuch und einen Schoss aus gemustertem Stoff.
Die Sonntagstracht ist etwas aufwändiger. Diese wird häufig in den Farben Blau oder Rot gefertigt. Sie umfasst eine (nicht bestickte) Leinenbluse mit grossem Kragen sowie einen weissen Leinenschoss, der mit einer Kreuzstich-Bordüre verziert ist.
Die aufwändigste und edelste Tracht ist die Festtagstracht. Sie wird aus edleren Materialen gefertigt. Das Schultertuch und der Schoss sind aus Seide und werden oft aufwändig bestickt, allerdings nicht mit dem Kreusztich, sondern mit einer anderen Stickart. Das besondere bei dieser Festtagstracht ist, dass jedes Tal ihre eigenen Farben, Schnitte und Kopfbedeckungen hat.
Eine solche Festtagstracht aus dem Schams trug meine Grossmutter mit grossem Stolz bei jeder Familienfeier. Im Jahr 2018 hatte ich zum ersten Mal selbst die Gelegenheit, diese prachtvolle Tracht für ein Konzert mit dem Vokalensemble incantanti zu tragen. Das Anziehen dieser Tracht ist ein Erlebnis für sich – fast wie eine Zeremonie, die Zeit benötigt und kaum allein zu bewältigen ist.
Das Tragen der Tracht löste in mir ein unerwartetes Gefühl von Freude und Stolz aus. Obwohl sie nicht den modernen Modetrends entspricht, fühlte ich mich darin schön und besonders.

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